Sonderschulen sollen die Defizite lernbehinderter Kinder ausgleichen. Zwei bislang unveröffentlichte Studien zeigen, dass sie das Gegenteil bewirken.

 

Den Streit um die Inklusion zeichnet vieles aus: Leidenschaft und Lautstärke, schöne Geschichten vom Gelingen des gemeinsamen Lernens und böse Beispiele seines Scheiterns. Und ganz viel Überzeugung. Denn viele Positionen im Streit um das Thema basieren auf einer eher lockeren "Bei uns in der Schule"-Empirie oder "Ist doch klar"-Evidenz.

Ist doch klar, dass Förderschüler am besten lernen, wenn sie unter sich bleiben: in besonderen Schulen, unterrichtet von besonderen Lehrern, ohne ständig frustriert zu werden vom Erfolg anderer Kinder. So meinen die einen. Ist doch klar, dass Förderschüler am besten in einer normalen Schule lernen, wo sie sich am Vorbild besserer Mitschüler orientieren, anstatt in einem pädagogischen Schonraum zu verkümmern. So lautet die andere Position, die bisher aber ebenso wenig wie die erste durch Forschung abgesichertes Wissen für sich beanspruchen konnte.

Das wird sich ändern. In den nächsten Wochen erscheinen gleich zwei große Studien, die konkrete Ergebnisse der verschiedenen Förderphilosophien in der Praxis verglichen haben. Die Untersuchungen, die der ZEIT vorliegen, sind repräsentativ und methodisch anspruchsvoll, und weder die Forscher noch die jeweiligen Auftraggeber – das Bundesbildungsministerium und die Kultusministerkonferenz (KMK) – stehen unter Ideologieverdacht. Deshalb wird ihr klares Ergebnis auch die weitere Debatte um die Inklusion prägen: Im gemeinsamen Unterricht lernen Kinder mehr, als wenn sie separat unterrichtet werden.

Dass solche Untersuchungen für Deutschland bislang fehlten, ist allein schon überraschend. Schließlich hat Deutschland das am besten ausgebaute Sonderschulsystem der Welt, die meisten Professoren für Sonderpädagogik – und 16 Kultusminister, die zum Thema immer wieder neue Gesetze erlassen. Man darf sich wundern, auf welcher Basis sie eigentlich jahrzehntelang agierten. Diese Frage müssen sich nun besonders die Befürworter der Sonderbeschulung stellen. Denn Förderschulen existieren ja, weil sie Kinder besser fördern sollen. In der Praxis jedoch scheint das Gegenteil der Fall zu sein, zumindest für einen großen Teil der betroffenen Schüler, jenen mit Lern- und Sprachproblemen.

"Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die in einer Regelschule unterrichtet wurden, weisen in allen untersuchten Bereichen höhere Leistungen auf als vergleichbare Schülerinnen und Schüler in Förderschulen", schreiben die Forscher des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in einem Aufsatz, der Ende des Monats in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie erscheinen wird. Dabei sei der Vorteil des integrierten Unterrichts "überraschend groß", sagt IQB-Direktorin Petra Stanat und gesteht: "Ich hätte damit nicht gerechnet."

Konkret verglichen die Autoren im Fach Deutsch und Mathematik die Lernstände von Förderschülern aus beiden Systemen. Sie verwendeten dazu die Daten aus dem jüngsten Ländervergleich für die Grundschule, der alle fünf Jahre im Auftrag der KMK erhoben wird. Einfach ist das nicht, denn erwartungsgemäß unterscheiden sich beide Gruppen in ihrer Herkunft deutlich. Förderschüler in Sonderschulen stammen aus sozial schwächeren Familien als solche, die integriert beschult werden. Zugleich verfügen sie über geringere "kognitive Grundfertigkeiten", vulgo einen niedrigeren Intelligenzquotienten.

Doch selbst wenn man diese Unterschiede herausrechnet, bleiben die Differenzen zugunsten des gemeinsamen Unterrichts groß. In Mathematik und Lesen entspricht der Vorsprung umgerechnet dem Wissen, das Grundschüler in einem halben Jahr erwerben, im Kompetenzbereich Zuhören sogar dem Fortschritt eines ganzen Jahres. Ein Detailergebnis erscheint dabei besonders kurios: Schüler aus Sprachheilschulen zeigen keinen Leistungsnachteil in Mathematik, wohl aber bei der Sprache (Lesen und Zuhören) – ausgerechnet also in jenem Bereich, für den diese Sonderschulen eingerichtet wurden.

Folgt man den IQB-Forschern, dann sind die Lernbehinderten in Sonderschulen gleich "doppelt benachteiligt". Sie stammen aus Familien, in denen sie wenig Förderung erfahren, und landen in Schulen, in denen das Gleiche passiert, selbst wenn ihre Lehrer mit viel Engagement das Gegenteil erreichen wollen. Genau dieses Muster der unbewussten Diskriminierung – Experten sprechen von einem "institutionellen Matthäuseffekt" (Wer hat, dem wird gegeben) – kennt die Bildungsforschung von Hauptschulen. Und genau deshalb gibt es diese Schulform in den meisten Bundesländern heute nicht mehr.

Die IQB-Autoren gründen ihre Ergebnisse jedoch nur auf eine punktuelle Stichprobe, sie schießen quasi ein Foto vom Leistungsstand der Schüler. Der Goldstandard empirischer Bildungsforschung aber sind Filme, also die Überprüfung derselben Leistungen über viele Jahre. Nur so kann man den Lernfortschritt der Kinder messen.

Genau das haben sich Bielefelder Wissenschaftler mit der BiLieF-Studie vorgenommen. Sie testen Schüler aus Inklusionsklassen und Förderschulen in regelmäßigen Abständen. Nun liegen die Ergebnisse der ersten Erhebungswelle vor, und sie zeigen in dieselbe Richtung wie die IQB-Studie, wenn auch nicht ganz so deutlich.

Zwar haben alle getesteten Kinder zwischen der dritten und vierten Klasse etwas hinzugelernt – Schüler im gemeinsamen Unterricht aber messbar mehr als solche, die exklusiv beschult werden. Die Sonderlerner sind zum Beispiel am Ende der Grundschulzeit nicht imstande, einfache Worte fehlerfrei zu schreiben. "Oftmals lässt sich nicht einmal eine lautgetreue Schreibweise erkennen", heißt es im BieLieF-Forschungsbericht. Stattdessen werden nur einzelne Buchstaben notiert, mitunter spiegelverkehrt: "ima" statt "Eimer", "Sankisbe" statt "Sandkiste".

Einer schnellen Schließung aller Sonderschulen reden die Bielefelder Forscher freilich nicht das Wort. Ihre Daten seien noch vorläufig, weitere Erhebungen müssten folgen. Zwar beziffert die BieLief-Studie klar den Anteil der Lernumgebung am Leistungsgefälle zwischen gemeinsamem und separatem Unterricht, quasi die Schuld der Schulform: Beim Lesen sind es im Schnitt 18 Prozent, bei der Rechtschreibung 25 Prozent. In einzelnen Fällen jedoch schnitten auch Sonderschulen sehr gut ab – und Inklusionsschulen miserabel.

Dabei zeige sich ein weiterer allgemeiner Erkenntnistrend der Bildungsforschung, sagt Studienleiterin Elke Wild: "Die Schulstruktur ist nicht unbedeutend, wichtiger aber sind die Lehrer und die Qualität der einzelnen Schule." Wie diese Qualität aussieht, haben Wild und ihre Kollegen bei Schulbesuchen in zwei Gruppen von Schulen gemessen: jenen, die in den Tests am besten, und jenen, die am schlechtesten abschnitten.

Das Muster des Erfolgs ähnelte in überraschender Weise dem Profil guter Schulen allgemein: Sie haben eine starke Schulleitung und zeichnen sich durch Teamgeist aus. Sie legen Wert auf eine straffe Unterrichtsführung (Classroom-Management) und stellen an diese hohe Anforderungen. Letzteres könnte eines der Hauptprobleme der Förderschulen sein. Weil in ihren Klassen leistungsstarke Schüler fehlen, schrauben die Lehrer ihre Erwartungen immer weiter nach unten.

Darüber hinaus identifizierten die Bielefelder Forscher jedoch einen spezifischen Erfolgsfaktor gemeinsamen Unterrichts: die Haltung des Lehrerkollegiums zur Inklusion selbst. Die Forscherin Birgit Lütje-Klose berichtet von Schulen, die auf ihrer Homepage zwar das gemeinsame Lernen preisen. Rede man jedoch mit den Lehrern, habe man das Gefühl, die ganze Idee der Inklusion sei eine einzige Zumutung. Mitunter hätten sie schon kurze Zeit nach Betreten der Schule voraussagen können, welcher Geist in der Schule herrschte, berichten die Bielefelder Forscher.

Inklusion verspricht per se keine besseren Lernergebnisse. Exklusion erst recht nicht. In der Vergangenheit schafften drei Viertel aller Förderschüler keinen Abschluss. "Ich weiß nicht, ob die Inklusion so schnell kommen muss", sagt Petra Stanat. "Dass sie kommen muss, ist nach diesen Studien jedoch klar."

 

Quelle: http://www.zeit.de/2014/20/sonderschulen-inklusion