Schulbegleiter stehen Behinderten im Alltag bei – eine fachliche Qualifikation wird dafür nicht abverlangt. Auch arbeitsrechtlich sind die Helfer selten abgesichert.
Harald R. ist Schulbegleiter. Besser gesagt er war Schulbegleiter. In einem Thüringer Dorf betreute er einen behinderten Jugendlichen. Er brachte ihn zur Schule, half ihm dort durch den Lernalltag, stand ihm auf dem Schulweg oder bei Freizeitaktivitäten bei. Bis es zu Unstimmigkeiten mit den Eltern kam. Weil die den Integrationshelfer schließlich ablehnten, musste R. gehen. Mit der Bindung an den Jungen verlor er auch den Job. Schulbegleiter gibt es vermehrt, seit 2009 in Deutschland die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen in Kraft trat. Danach sind die Vertragsstaaten gehalten, alle erforderlichen Maßnahmen zu gewährleisten, dass Kinder mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Kindern alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen können (Artikel 7). Außerdem erkennen die Unterzeichner das lebenslange Recht auf Bildung und integratives Lernen für Menschen mit Behinderungen an (Artikel 24). Übersetzt heißt das: Behinderte sollen – wenn möglich – an normalen Schulen mit anderen Kindern unterrichtet werden. Schulbegleiter helfen ihnen dabei über Handicaps und Nachteile hinweg. Eine fachliche Qualifikation müssen Sie dafür aber bislang nicht nachweisen. Und auch arbeitsrechtlich sind sie kaum abgesichert. Bevor er den Job über persönliche Kontakte bekam, war Harald R. arbeitslos. Nun ist er es wieder.
Behinderte haben ein Recht auf normalen Unterricht
Statt von Integration spricht man auch in Thüringen mittlerweile von Inklusion. Gemeint ist das für alle Kinder und Jugendliche geltende Recht auf Bildung und soziale Partizipation – unabhängig davon unter welchen Vorraussetzungen oder Bedingungen sie aufwachsen. Mitte vergangenen Jahres legte das Thüringer Kultusministerium den „Entwicklungsplan Inklusion zu Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Artikel 7 und 24) bis 2020" vor. Enthalten sind neben regionalen Entwicklungsstrategien viele Maßnahmen und Aufgaben, die die Landesregierung umsetzen will. Diese betreffen die Kontrolle von Kindereinrichtungen und Schulen auf Ihre Eignung für Behinderte ebenso wie konkrete Fördermaßnahmen bei körperlichen, geistigen oder sprachlichen Beeinträchtigungen. Handlungsbedarf sieht der Entwicklungsplan auch bei den Schulbegleitern. 270 derartige Helfer zählte das Kultusministerium bei der letzten landesweiten Erhebung vor vier Jahren, inzwischen dürften es mehr sein. Für deren Einsatz und Befähigung bedürfe es kurzfristiger fachlicher Empfehlungen. Welcher, sagt der Landesplan nicht. Beschäftigt werden die Integrationshelfer von Schulen oder freien Trägern. Das Geld kommt je nach Art der Behinderung und Ausmaß entweder vom Sozialamt oder Jugendamt. Auch Eltern können über das sogenannte persönliche Budget selbstständig Schulbegleiter für ihre Kinder organisieren. „Beim persönlichen Budget wird dem Antragssteller anstelle der üblicherweise bewilligten Sachleistung „Schulbegleitung" das Geld gewährt, das für die Beschäftigung eines Schulbegleiters notwendig ist. Dieses Geld kann zweckgebunden zur Unterstützung des Kindes eingesetzt werden", erläutert der Sprecher des Sozialverbandes Benedikt Dederichs.
Bislang keine Ausbildung für Schulbegleiter
In der Praxis bedeute dies, dass Eltern die Leistung eines Schulbegleiters selbstständig einkaufen und bezahlen – und gegebenenfalls wieder ablehnen können. Doch das ist nur eine der Unwegbarkeiten, mit der Schulbegleiter konfrontiert werden. „Aufgrund der vielen unterschiedlichen Zuständigkeiten von Jugendamt und Sozialhilfeträger einerseits sowie der Kultusverwaltung andererseits werden die Betroffenen oft zwischen den Behörden hin und her geschickt. Verlässliche Finanzierungen fehlen, oft besteht Streit, wer die Kosten übernehmen muss", sagt Dederichs. Umstritten sind auch die berufsrechtlichen Anforderungen an Schulbegleiter. „Es gibt keinen anerkannten Beruf mit der Bezeichnung Schulbegleiter oder Integrationshelfer und somit auch keine spezielle Berufsausbildung", so Dederichs weiter. Der Sprecher der Thüringer Arbeitswohlfahrt, Dirk Gersdorf, bestätigt: „Es gibt keine rechtliche Festschreibung des Begriffes Schulbegleiter." Das Problem ist so alt wie das Thema Inklusion selbst. Unter der Überschrift „Schulbegleitung in Thüringen – Inklusion braucht Professionalität" richtete die Grünen-Politikerin Astrid Rothe Beinlich 2010 im Landtag eine kleine Anfrage an das Kultusministerium. Während das Ministerium seinerzeit in der Antwort noch darauf verwies, „dass sowohl die Sozialhilfe als auch die Jugendhilfe einen „Schulbegleiter" mit umfassenden Tätigkeitsauftrag nicht kennen", fordert der Landesentwicklungsplan zur Inklusion nun immerhin Helfer, die „dem Fachkräfteangebot der Jugendhilfe entsprechen" müssen. Möglicherweise aber bedürfe es einer solchen Forderung gar nicht mehr – wenn denn das Land das Modellprojekt QuaSi weiter unterstützt hätte. Das Kürzel QuaSi stand für „Qualifizierung von Schulbegleitern und Schaffung von Netzwerken für die gelungene schulische Integration in Thüringen" und startete 2009 als Initiative vieler beteiligter Verbände und Einrichtungen. Angesiedelt beim Institut für Berufsbildung und Sozialmanagement (IBS) und wissenschaftlich begleitet von der Fachhochschule Erfurt, wurde ein Curriculum mit verbindlichen fachlichen Richtlinien zu pädagogischen und pflegerischen Fähigkeiten, Kommunikation und Selbstverständnis der Integrationshelfer erarbeitet und auch bereits in ersten Ausbildungsgängen angewandt.
Modellprojekt QuaSi wurde eingestellt
Zwischenberichte zogen seinerzeit ein vielversprechendes Fazit. Teilnehmer mehrerer Qualifizierungs-Lehrgänge bewerten ihre Lernerfolge als „sehr positiv", zudem habe das Projekt große regionale und überregionale Resonanz gefunden. Doch schon 2012, also nach nur drei Jahren, war wieder Schluss, unter anderem weil das Land seine Förderungen mit Komplementärmitteln zu Geldern aus dem Europäischen Sozialfonds strich. Geblieben ist die QuaSi-Internetseite, auf der man bis heute nachlesen kann, was möglich wäre, wenn. Betroffene Eltern können sich hier zwar noch den QuaSi-Elternratgeber herunterladen. Besagtes Curriculum liegt seit zwei Jahren vergessen beim IBS in der Schublade. „Leider konnten wir uns mit der Qualifizierung nach einheitlichen Qualitätsstandards nicht durchsetzen" sagt IBS-Chefin Steffi Lange dazu. Über mögliche Gründe möchte die Fachfrau nicht spekulieren. So kann dann auch in Thüringen weiter jeder Schulbegleiter werden, wer sich für geeignet hält oder einen Träger findet. Das Arbeitsspektrum reicht vom arbeitslosen Handwerker über Freiwillige im sozialen Jahr bis zu Pädagogen oder Pflegekräften. Bei der Awo in Thüringen sind aktuell 21 Schulbegleiter in den Regionen Erfurt, Sonneberg, Hildburghausen und im Südharz tätig. Zu deren Anstellungsverhältnis sagt Awo-Sprecher Dirk Gersdorf: „Bei uns unterschreiben die Schulbegleiter einen Arbeitsvertrag. Der Vertrag ist an die jeweilige Schulbegleitung – also an das Kind – gebunden. Endet eine Schulbegleitung, zum Beispiel auf Wunsch der Eltern oder des Schulbegleiters selbst, endet auch der Arbeitsvertrag." Übergangsregelungen oder Kündigungsfristen – Fehlanzeige. Das kostete letztlich auch Harald R. den Job.
Von Hanno Müller/Thüringer Allgemeine/05.07.2014