Das Glück, dazuzugehören

Menschen mit Behinderung fordern mehr Teilhabe am Arbeitsleben. Ist die deutsche Gesellschaft schon so weit? von Jeannette Otto

 

Zahlen sind für Flavio Kwiatkowski ein Graus. Im Unterricht ist er in Mathe nie mitgekommen. Sein Gedächtnis spielt ihm manchmal Streiche. Einen Schulabschluss hat er nicht geschafft. Die Kinder in der Evangelischen Kita Neu-Allermöhe im Osten von Hamburg stört das nicht. "Flavio!", rufen sie. "Flaaaaviooo!" Sie wollen, dass Flavio beim Mittagessen neben ihnen sitzt, dass er ihnen danach beim Zähneputzen hilft und später vielleicht eine Geschichte erzählt.

Dass Flavio trotz seiner starken Lernbehinderung einen Arbeitsplatz wie diesen finden würde, war für ihn lange nicht vorstellbar. Er hat vieles ausprobiert, Praktika gemacht, und immer dann, wenn er dachte, er könne zum Beispiel Tierpfleger oder Zweiradmechaniker werden, sah er, welche Voraussetzungen Bewerber brauchten, und wusste: "Das schaff ich nicht." Diverse Gutachter rieten ihm, sich einen Platz in einer Behindertenwerkstatt zu suchen.

 

Heute nennt sich Flavio "Kita-Helfer". Der 23-Jährige spricht langsam und findet nicht immer die richtigen Wörter, aber seine Augen fangen an zu lachen, als er von seiner Arbeit spricht. Wenn er "Routine" sagt, klingt das ein bisschen wie "Glück". Das Glück, dazuzugehören, jeden Morgen von schnatternden Kindern begrüßt zu werden und von Kollegen, die dankbar sind, dass er da ist, jeden Tag, siebeneinhalb Stunden lang. Ist Flavio nun ein Beispiel für gelungene Inklusion?

Seit Jahren geistert der Begriff durch die Bildungsdebatten. Inklusion, das ist das große Ziel, die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung zu beenden, ihnen "ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen einen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen" zu verschaffen. So steht es unter anderem in Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland im Jahr 2009 unterzeichnet hat. Seitdem wurde viel diskutiert und gestritten, wie weit die Inklusion gehen kann; einzelne Bundesländer haben begonnen, die Idee in oft überstürztem Eifer in den Regelschulen umzusetzen und Kinder mit besonderem Förderbedarf gemeinsam mit allen anderen Schülern zu unterrichten.

Bald werden die ersten inklusiv beschulten Jugendlichen mit Handicaps nun die Schulen verlassen. Wie geht es weiter, fragen sie schon jetzt. Verbessert die Inklusion unsere beruflichen Aussichten? Verständliche Fragen, denn wer einmal das Gefühl hatte, dazuzugehören, will sich nie wieder ausschließen lassen.

Arbeitsplätze wie der von Flavio aber sind längst keine Regel in Deutschland, eher die große Ausnahme. Schließlich hat man für den Umgang mit behinderten Menschen über Jahrzehnte hinweg ein ausgeklügeltes Paralleluniversum geschaffen. Es gibt Sondereinrichtungen für die Besonderen, die sich ganz auf deren Bedürfnisse ausrichten: Behindertenwerkstätten nehmen Menschen mit geistigen Handicaps auf und qualifizieren sie für die Produktion in den Werkstätten. Wer körperlich und psychisch beeinträchtigt ist, wird einem Berufsbildungswerk zugewiesen. 52 gibt es davon in Deutschland. Sie bieten größtenteils staatlich geförderte Ausbildungen an. Schätzungsweise die Hälfte davon fallen allerdings in die Kategorie der Sonderberufe – mit stark veränderten Lehrplänen, weniger Theorie, dafür flexibleren Ausbildungszeiten und eher symbolischen Prüfungen. Anschlussfähig sind diese Abschlüsse auf dem Arbeitsmarkt meist nicht. Auch deshalb steigen die Mitarbeiterzahlen in den Behindertenwerkstätten weiter an.

Wer es mit einer inklusiven Gesellschaft ernst meine, sagt Rainer Schulz, Geschäftsführer des Hamburger Instituts für Berufliche Bildung (HIBB), der müsse bereit sein, sämtliche Strukturen, die bisher zur Ausgrenzung von behinderten Menschen geführt haben, radikal zu verändern. Seine Idealvorstellung: "Wir streben für jeden jungen Menschen eine Vollausbildung an, egal ob er ein Handicap mitbringt oder nicht." Während der Ausbildung müsse man sehen, wieweit der Einzelne den Anforderungen gerecht werden könne, und ihn so viel wie möglich unterstützen. "Gelder, die normalerweise in die Sondereinrichtungen gehen, müssen in die Berufsschulen und Betriebe fließen." Schulz fordert damit nicht weniger als einen Paradigmenwechsel, der alles Bestehende infrage stellt.

"Eine inklusive Berufsausbildung wird in letzter Konsequenz bedeuten, dass sich das gesamte institutionelle Gefüge verändern wird", sagt auch Martin Baethge, Präsident des Soziologischen Forschungsinstituts an der Universität Göttingen. "Auch die jetzigen Behinderteneinrichtungen müssen sich öffnen, wenn sie ihre Existenz sichern wollen." Baethge gehört zur Autorengruppe Bildungsberichterstattung, die an diesem Freitag die Ergebnisse des Nationalen Bildungsberichts 2014 vorstellt. Schwerpunkt: die inklusive Berufsausbildung. Baethge glaubt, dass sich nicht alle Politiker über diesen Bericht freuen werden. "Es gibt nach wie vor ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie weit die Inklusion eigentlich gehen sollte. Da glaubt manch einer noch immer, es wäre mit der Einrichtung von Förderschulen getan."

Auch Dieter Euler, Professor am Institut für Wirtschaftspädagogik der Universität St. Gallen, macht sich wenig Hoffnung, dass schon in naher Zukunft in Deutschland vieles zu verändern sei. Auch wenn an Absichtserklärungen und Lippenbekenntnissen kein Mangel herrscht. So haben sich acht Bundesländer sowie die Agentur für Arbeit auf Initiative der Bertelsmann Stiftung zusammengeschlossen, um Lösungen für eine gerechtere und leistungsfähigere Berufsausbildung zu suchen. Dieter Euler hatte die Aufgabe, ein Positionspapier dazu zu erarbeiten. Eine der zentralen Aussagen: Junge Menschen mit Behinderungen sollten keinen separierenden Maßnahmen oder Einrichtungen mehr zugewiesen werden. Ziel sollte immer eine Ausbildung in einem anerkannten Beruf sein. Dafür müsse es mehr Berufsvorbereitung in den Schulen geben, und die Berufsschulen müssten die nötigen Ressourcen bekommen, damit sie auch Jugendliche mit besonderem Förderbedarf ausbilden können. Zudem müssten sich deutlich mehr Betriebe für die Inklusion engagieren.

Die Bertelsmann Stiftung hat in dieser Woche die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von über 1.000 Betrieben vorgestellt. Sie sollten Auskunft geben, ob sie Jugendliche mit Behinderungen ausbilden oder nicht. Nur 24 Prozent gaben eine positive Antwort. Die Gründe für die Zurückhaltung: Zum einen bekomme man zu wenig Bewerbungen von Jugendlichen mit Handicaps, zum anderen seien die Anforderungen der Ausbildung oft zu hoch. 52 Prozent der Betriebe geben an, sie würden mehr behinderte Jugendliche ausbilden, wenn der Staat sie besser unterstützen würde. Die derzeitigen Förderungen werden als nicht ausreichend, intransparent und zu bürokratisch beurteilt.

Währenddessen verlassen Jahr für Jahr 50.000 Jugendliche mit erhöhtem Förderbedarf die Schulen. Bis zu 18.000 von ihnen landen in Berufsvorbereitungsmaßnahmen. 3.000 bis 4.000 erhalten zwar eine Ausbildung, schaffen es aber selten auf den ersten Arbeitsmarkt. Zwar verlieren die schulischen Förderdiagnosen mit Beginn der beruflichen Bildung ihre Gültigkeit. Es wird aber neu begutachtet, um zu entscheiden, welche Art von Unterstützung jemand erhält und ob er eher einen Platz in einer Werkstatt oder einem Berufsbildungswerk zugewiesen bekommt. Dieter Euler wäre es am liebsten, wenn man Jugendlichen keinen solchen Stempel mehr verpassen würde. "Diese Diagnosen haben immer mit bestimmten Zuschreibungen und Vorstellungen von Normalität zu tun", sagt er. Gerade bei lernbehinderten Jugendlichen wisse man inzwischen aber, dass eine Separation die Auffälligkeiten eher verstärke. Den Weg aus einer Behindertenwerkstatt zurück in den regulären Arbeitsmarkt fänden nur wenige. "Dabei ist die Heterogenität in den Werkstätten groß. Manche Mitarbeiter könnten an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung möglicherweise doch noch eine Ausbildung schaffen", sagt Euler, "aber oft sind gerade sie dann die Leistungsträger in den Werkstätten, von denen man sich nur ungern trennt."

Die Elbe-Werkstätten in Hamburg haben schon nach neuen Wegen für ihre Mitarbeiter gesucht, als das Wort Inklusion in Deutschland noch niemand kannte. 3.000 Menschen mit Behinderung arbeiten dort. Rund 50 von ihnen haben wie Flavio Kwiatkowski die vierjährige Ausbildung zum Kita-Helfer gemacht und verbringen den Arbeitstag nun auf sogenannten "ausgelagerten Werkstattplätzen" in verschiedenen Kindergärten. Ausgebildet werden die Kita-Helfer in Kooperation mit einer Hamburger Fachschule, einen anerkannten Abschluss erwerben sie aber nicht. Deshalb dürfen sie auch keine pädagogischen Aufgaben, keine verantwortlichen Tätigkeiten übernehmen. Und trotzdem passiert viel mit ihnen, wenn sie merken, dass sie gebraucht werden. "Wir haben hier schon unglaubliche Entwicklungen erlebt", sagt die stellvertretende Kita-Leiterin Christiane Soltau und erinnert sich an die erste Kita-Helferin, die sie ausgebildet hat. Ein 19-jähriges Mädchen auf dem Entwicklungsstand einer 15-Jährigen, das so gut wie gar nicht lesen und schreiben konnte. Das habe sie zwar auch in der Kita nicht gelernt, sagt Soltau, dafür aber sei sie in anderen Dingen gewachsen. Heute ist das junge Mädchen von damals Mutter und steht auf eigenen Beinen. Vielleicht hätte sie sich das ohne die Arbeit in der Kita nie zugetraut.

Der Arbeitsmarkt brauche Nischen wie die in den Hamburger Kitas, sagt Rainer Schulz vom HIBB. "Denn wenn wir so weitermachen wie bisher, wird die Inklusion spätestens am Arbeitsmarkt scheitern." Die wachsenden Anforderungen in den Unternehmen sind mit den Bedürfnissen von behinderten Menschen weniger vereinbar denn je. Immer differenzierter und spezialisierter werden die Aufgaben, bei oft hoher psychischer Belastung. Platz für Hilfskräfte gibt es da kaum.

Flavio fällt es noch immer schwer, sich die Namen aller Kinder zu merken. Am Anfang hat er sich jeden Namen auf eine Liste geschrieben und versucht, sich das Gesicht dazu vorzustellen. Trotzdem passiert es ihm immer noch, dass er Kinder verwechselt. Die kichern dann nur und sagen: "So heiß ich doch gar nicht!" Die Unterschiedlichkeit werde für die Kinder zur Normalität, sagt Christiane Soltau. Die Kita-Helfer zeigten ihnen, dass jeder Mensch anders ist und jeder etwas anderes gut oder gar nicht kann. Für Rainer Schulz ist die Inklusion in der Berufsausbildung und auf dem Arbeitsmarkt deshalb vor allem "ein großer Schritt für alle Menschen ohne Behinderung". "Die müssen einiges aushalten und sich mit Leuten auseinandersetzen, die sie bisher nicht mal wahrgenommen haben."

Nicht selten fängt das Aushalten also mit der Erkenntnis an, dass es Behinderte überhaupt gibt und dass sie Wünsche an ihr Leben haben, wie jeder andere auch.

Quelle: http://www.zeit.de/2014/25/inklusion-behinderung-arbeitsleben